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In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts kamen Landschaftsmaler aus München in die Gegend, die man heute das „Blaue Land” nennt. Unterwegs mit Kamera, Paletten, kleinen Malpappen, zusammengefalteter Staffelei und verschließbaren Farbtuben fuhren der Russe Wassily Kandinsky, Lehrer an der Phalanx-Schule, und seine Schülerin Gabriele Münter zu zweit mit dem Fahrrad durch die reizvollen Landschaften des Voralpenlandes, denn Münter war neben Kandinsky die einzige Teilnehmerin des Sommerkurses der Phalanx-Klasse mit einem eigenen Fahrrad.
In ihrer Auseinandersetzung mit den gewählten Motiven fixierten die Künstler die wahrgenommene Stimmung anhand von Formen, Licht und Farben. Die flüchtige Ölskizze betonte den Vorrang des Malerischen vor der gegenständlichen Bedeutung. Nebenbei entstanden zahlreiche Fotografien, die insbesondere Münter anfertigte. Denn sie trug stets ihre Kodak-Rollfilmkamera bei sich.
Man kam sich auch menschlich näher. Gabriele Münter begleitete Wassily Kandinsky auf Reisen nach Holland, Italien, Tunesien, Frankreich und Berlin und kaufte schließlich im Sommer 1909 ein Haus in Murnau, das heutige Münter-Haus. Hier fanden 1911 die Arbeitssitzungen zum Almanach „Der Blaue Reiter" statt, zu denen Kandinsky Franz und Maria Marc sowie August und Elisabeth Macke eingeladen hatte. Marc malte Tiere in der Natur, Macke bevorzugte die Natur in der Stadt.
Der Expressionismus als Stilrichtung der bildenden Kunst zeichnet sich freier Umgang mit Farbe und Form in häufiger Verwendung ungemischter Farben und holzschnittartiger Formen aus. Weitere Charakteristika sind eine Motivreduzierung auf markante Elemente der Bildobjekte und eine Auflösung der traditionellen Perspektive.
Orte der Inspiration
Will man heute den Inspirationen der expressionistischen Maler nachspüren, empfiehlt sich eine Rundreise durch die Museumsorte München, Bernried, Murnau, Kochel am See und Penzberg. Man kann dies auf eigene Faust tun oder im Rahmen einer organisierten Reise, bei der für Transport, Unterbringung und – ganz wichtig – kunstgeschichtlich versierte Begleitung gesorgt ist. Ganz Verwegene schwingen sich sogar aufs Fahrrad, aber ob sie dann am Ziel noch die rechte Muße für den Kunstgenuss haben?
Ein guter Ausgangspunkt, um dem „Blauen Reiter” nachzuspüren, ist sicher der malerische Ort Murnau, wo wir im Hotel Angerbräu bestens untergebracht waren. Die Anreise kann dann zum Beispiel über München erfolgen, die Abreise über Bernried am Starnberger See. Oder auch umgekehrt. Wichtig ist nur, dass man keinen dieser Orte ausläßt, denn sie beziehen sich aufeinander. So ist etwa das Münterhaus in Murnau eine Dependance des Münchner Lenbachhauses und dieses wiederum der Ausstellungsort für die Sammlung, die Gabriele Münter in ihrem Keller (dem „Millionenkeller”) vor dem Zugriff der Nazis versteckt hielt.
Vorprogramm
Mit dem Wissen, dass sich die Expressionisten um Kandinsky, Marc, Macke, Münter und Campendonk, um nur einige zu nennen, auch vom Malstil eines Vincent van Gogh haben inspirieren lassen, kann man in München ein kleines Vorprogramm einschieben, nämlich die Multimediashow „Van Gogh Alive” in der Utopia, gleich neben dem ehemaligen Straßenbahndepot an der Dachauer Straße. Seine Tickets hat man sich natürlich vorab gesichert, und so findet man sich in einer „lebendigen Symphonie aus Licht, kräftigen Farben und Klang” wieder, die man nach der etwa einstündigen Bilderorgie gar nicht wieder verlassen will: nochmal die Blütenblätter aus dem Mandelbaum von Saint-Remy rieseln sehen, nochmal das sich kräuselnde Wasser der Rhône, in dem sich der Nachthimmel spiegelt, nochmal die verschreckt aus dem Kornfeld auffliegenden schwarzen Krähen erleben, als der tödliche Schuss fällt.
Lenbachhaus
Die Übergänge zwischen den permanenten und temporären Ausstellungen des Lenbachhauses sind fließend. Es geht um das Malen unter freiem Himmel, um die Malerin Gabriele Münter und um die Künstlervereinigung des Blauen Reiter, der hier unter dem Titel „Gruppendynamik” eine ganze Etage gewidmet ist. Die Ansichten von Murnau wecken die Neugier auf den Ort, der quasi die heimliche Hauptstadt des vielfach in den Bildern festgehaltenen Blauen Landes ist.
Münterhaus
Der Morgen ist sonnig, und die Dahlien und Sonnenblumen vor dem Münterhaus lassen spürbar werden, daß sich das Gartenjahr seinem Ende zuneigt. Im Haus ist noch vieles so wie damals, als Wassily Kandinsky und Gabriele Münter hier lebten und malten, Freund zu sich einluden und zusammen mit Franz Marc am Almanach „Der Blaue Reiter” arbeiteten. Das Treppengeländer ist noch immer mit blauen und andersfarbigen Reitern bemalt, und auch die Eckbank, die aufmerksame Beobachter von einem Gemälde im Lenbachhaus kennen, steht hier im Original. Gabriele Münter lebte bis ins hohe Alter in diesem Haus und hat sicher oft aus genau diesen Fenstern gesehen.
Hinter dem Haus führt eine Lindenallee hinüber in den Ort, wo Kandinsky in der Grüngasse die Rückfront der Mariahilfkirche gemalt hat. Sie ist zwar heute nicht mehr blau, aber ist sie das jemals gewesen? Wir wissen ja, dass die Expressionisten durch Farbe die inneren Werte der Dinge sichtbar machen wollte.
Schlossmuseum
Das Schloss ist ein wuchtiger Bau mit vielen Abteilungen auf vielen Etagen. Eine umfangreiche Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Druckgrafiken Gabriele Münters, der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters bildet das Herzstück des Museums. Weitere Schwerpunkte sind die Landschaftsmalerei des 19. und 20. Jahrhunderts sowie eine umfassende Sammlung von Hinterglasbildern. Auch dem Dichter Odön von Horváth gefiel die Sommerfrische seiner Eltern, und er lebte hier von 1924 bis 1933.
Auf dem Weg zurück in den Ort empfiehlt sich ein kleiner Umweg zum Müntergrab gleich neben der Kirche. Und wenn bis zum Abendessen noch etwas Zeit bleibt, kann man auch noch einen Abstecher hinaus ans Moor wagen zur Ahndl-Kirche, die als die älteste weit und breit gilt. Nur das Griesbräu sollte man meiden oder sich auf deren hausgebrautes Bier beschränken.
Franz-Marc-Museum
Der Maler der blauen Pferde und Mitherausgeber des „Blauen Reiter“ fiel jung in den Schlachtfeldern von Verdun, sein Grab mit dem großen schmiedeeisernen Kreuz befindet sich auf dem Friedhof von Kochel am See.
Zu ihrer Zeit galten die Expressionisten nicht als Künstler, denn ihr Stil entsprach nicht dem allgemeinen ästhetischen Empfinden. Nach dem Tod seiner Frau Maria, die seinen Nachlass verwaltet hatte, vergingen noch einmal 30 Jahre, bis seine Heimatgemeinde ein Gebäude zur Verfügung stellte, in welchem die Franz Marc Stiftung seine Werke ausstellen konnte, und das 2008 dann noch einmal einen modernen Anbau erhielt.
Einer der Räume im Obergeschoss darf als „Dreiflügelaltar vor der Natur” verstanden werden, denn er ist allein der Aussicht durch drei raumhohe Fenster auf den See und den dahinter aufragenden Herzogstand gewidmet – jene Landschaft, die Marc geliebt hat, und die ihn geprägt hat.
Walchenseemuseum
Der Maler Lovis Corinth wollte sich nicht einordnen lassen, kein Mitglied einer Stilgruppe sein. Aber soll man das Museum am Ufer des Walchensees deshalb von der Liste sehenswerter Orte des Expressionismus streichen? Mitnichten, denn man versäumte ein Kleinod, wie es weit und breit kein zweites gibt. Und das liegt auch an der Person des Sammlers, der es sich auch hochbetagt nicht nehmen läßt, Einzelbesucher und Gruppen höchstselbst durch alle 20 Räume mit Bildern und Grafiken zu führen.
Benediktbeuern
Auf dem Rückweg ins Quartier kann man noch auf einen Sprung in jenem Kloster vorbeischauen, in dessen Bibliothek die Handschrift mit den berühmten Bauernliedern, der von Carl Orff vertonten Carmina Burana, gefunden wurde. Und wenn man Glück hat, ist auch die Glaswerkstatt von Joseph Fraunhofer, dem berühmten Entdecker der Fraunhofer‘schen Linien, geöffnet. Aber man muss Glück haben.
Penzberg
Ein Bergwerk mitten in Oberbayern? Der Bergbau ist in Penzberg längst Geschichte, die Kohlegrube seit 1966 geschlossen, die alten Arbeiterhäuser abgerissen und auch die Kirche ein Neubau aus den 1950er-Jahren. Was sie zu etwas Besonderem macht sind die von Heinrich Campendonk geschaffenen Glasfenster, das Jesaja-Fenster und das Passionsfenster.
Das Museum, untergebracht in einem der letzten Bergarbeiterhäuser, hat vor ein paar Jahren einen modernen Anbau erhalten. Die darin gezeigten Campendonk-Werke gehören allerdings nicht der Stadt, sondern dem Mast-Jägermeister-Konzern.
Staffelsee
Man sollte die Gegend um Murnau nicht verlassen, ohne auch den schönen Staffelsee erlebt zu haben. Denn so schön Kunst auch sein mag, sie ist anstrengend.
Museum der Phantasie
Das Museum des Malers und Autors Lothar Günther Buchheim befindet sich auf halbem Weg zwischen Murnau und München am Westufer des Starnberger Sees. Ob man es auf dem Weg von München nach Murnau oder von Murnau nach München besucht, spielt eigentlich keine Rolle, nur schönes Wetter sollte man sich dafür aussuchen, denn es liegt direkt am Starnberger See, mit atemberaubenden Blick auf die Alpenkette. Neben der berühmten Expressionistensammlung des „Boot”-Autors Lothar-Günther Buchheim begeistern hier Kuriositäten aus aller Welt.
Reisetipp
Der Verfasser hat sich für die Kulturreise zu den Höhepunkten des Blauen Reiters beim Würzburger Unternehmen „Mainka-Reisen” untergehakt, das auf diesem Gebiet einen ausgezeichneten Ruf genießt.
Museum, München
Sammlung von Werken des "Blauen Reiters", Gegenwart, Graphische Sammlung, Kubin-Archiv, Münchner Malerei des 15. bis 19. Jahrhunderts, Lenbach, Jugendstil, Neue Sachlichkeit.
Museum, Bernried
Museumsgebäude für die Sammlungen des Malers, Photographen, Verlegers und Kunst- und Romanautors Lothar-Günther Buchheim am Ufer des Starnberger Sees. Expressionistensammlung von Gemälden und Graphiken der „Brücke”-Maler.
Museum, Murnau
Der Blaue Reiter, Gabriele Münter, Landschaft. Hinterglaskunst aus Europa und Asien. Kulturgeschichte Murnaus.
Museum, Murnau
Gabriele Münter lebte bis 1914 mit Wassily Kandinsky und später mit Unterbrechungen mit ihrem späteren Lebensgefährten Johannes Eichner (1886-1958) bis zu ihrem Tode 1962 in diesem Haus.
Museum, Penzberg
Denkmalgeschütztes ehemaliges Arbeiterwohnhaus des Bergwerks. Wohnung mit zeitgenössischen Möbeln und Hausrat der Zeit um 1920. Der expressionistische Maler Heinrich Campendonk, jüngstes Mitglied der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter”.
Museum, Kochel am See
Sammlung Franz Marc und Blauer Reiter.
Museum, Urfeld
Das Museum im ehemaligen „Hotel zur Post”. Künstler, die am Walchensee gelebt und gewirkt haben, insb. Lovis Corinth, der 1918-1925 zeitweise in Urfeld wohnte. Umfangreiche heimatkundliche Sammlungen.
Museum, Benediktbeuern
Glasherstellung im ehemaligen Kloster. Schmelzöfen und Instrumente Fraunhofers. Technikmuseum zur Herstellung optischer Gläser.
Bis 1.11.2021, München
Das einzigartige Kunstprojekt zeigt Van Goghs Bilder so, wie sie noch nie gezeigt wurden – als lebendige Symphonie aus Licht, kräftigen Farben und Klang.